Gestern hat mir mein Nachbar seine kleine Akkusäge über den Zaun gereicht. „Für den Walnussbaum“, sagte er.
„Danke“, sage ich und nehme die frisch gefettete Säge entgegen.
„Da nicht für“, sagt er. Wie immer, wenn er mir Sachen über den Zaun reicht, die ich nicht habe, aber sehr gut gebrauchen kann.
Ich trage die Säge quer durch den Garten und säge einen Ast vom Walnussbaum. Krachend fällt er auf den Boden und aus der Schnittstelle tropft es. Tropf, tropf, tropf. Es sieht aus wie Tränen und ich muss schlucken und stelle die Säge erst einmal aus.
Als ich mich umdrehe, steht meine Tochter hinter dem Häcksler und weint.
„Hast du dir weh getan?“, frage ich erschrocken, denn sie hat in der letzten halben Stunde selbstständig kleine Äste in den Häcksler gestopft und dann das Gehäckselte bei den Himbeersträuchern verteilt. Hatte sie aus Versehen ein paar Brombeersträucher erwischt oder sich die Finger geklemmt?
Aber sie schüttelt den Kopf. In wenigen Schritten bin ich bei ihr und nehme sie in den Arm. „Was ist denn?“
Sie schüttelt stumm den Kopf und vergräbt ihr Gesicht in meinem Pulli. Immer wieder schluchzt sie.
„Ich habe doch nur einen Ast abgeschnitten“, erkläre ich. „Der, an dem wir uns beim Rasenmähen immer stoßen. Der Baum wächst doch weiter.“
„Ich habe solche Angst vor dem Klimawandel“, sagte sie schließlich und schluchzt wieder. „Ich will auch Kinder haben und dann soll es diese Erde noch geben. Irgendwann kann man den Klimawandel nicht mehr aufhalten.“
Ich drücke sie an mich.
„Wir essen ja kein Fleisch mehr und wir können auf jeden Fall noch mehr Plastik vermeiden. Ich trinke gerne Brause und sollte wirklich keine Einwegflaschen mehr nehmen. Im Sommer wird der Keller aufgebuddelt und dann isolieren wir den auch, damit wir weniger Gas beim Heizen verbrauchen.“ Ich überlege. „Wir können ja alle zusammen nochmal beraten, was wir noch machen können.“
„Ja, aber was ist mit den anderen?“
Ich stutze. „Welche anderen?“
„Die, denen das alles egal ist?“
Ich drücke sie fester an mich. „Wir können nur bestimmen, was wir selbst machen. Den anderen können wir nichts vorschreiben. Da musst du schon in die Politik gehen und die Regeln verändern.“
Sie überlegt kurz. „Das mache ich“, sagt sie schließlich und wischt sich die Tränen weg.
Ich schaue sie an. Ich wünschte, die Welt wäre eine andere und sie würde diese Sorgen nicht so schmerzhaft spüren.
Ich unterstütze Greenpeace seit ich 18 Jahre alt bin und unterschreibe Petitionen, spende jedes Jahr und gehe auf Demonstrationen für Klimaschutz und gegen Rechts.
Ich predige seit Jahren für mehr Menschlichkeit, Achtsamkeit und Bewahrung der Schöpfung, wie wir den Klimaschutz in der Kirche nennen. Es geht um Rücksicht und um Verantwortung. Ich plädiere dafür auf der Kanzel und in meinen Andachten im Radio. Aber reicht das?
Mit meinem Beruf habe ich die Möglichkeit aufgegeben, Mitglied einer Partei zu werden. Ich kann nur durch mein Handeln und Reden politisch sein.
Und durch den Gang zur Wahl.
„In Geschichten geht es immer gut aus“, sagt meine Tochter. „Aber irgendwann können wir das nicht mehr aufhalten. Mein Lehrer, Herr A, hat gesagt, wir schieben eine Kiste auf den Abgrund zu. Man kann immer aufhören zu schieben. Aber irgendwann kann man das alles nicht mehr aufhalten. Dann fällt die Kiste runter.“
Ich schlucke noch einmal. Ich sage immer, Geschichten können die Welt verändern.
Aber meine Tochter weiß nicht mehr, ob sie das noch glauben kann. Ob sie weiter hoffen kann. Sie hat sich die Tränen abgewischt. Sie ist stark und ich weiß, sie wird für ihre Zukunft kämpfen.
Aber wir sind die Erwachsenen. Wir müssen für die Zukunft der Kinder kämpfen. Für freundlichen Umgang mit allen Menschen. Für das Sachen über den Zaun reichen, wenn einer was hat, was die andere braucht. Für das Verzichten auf etwas, was nicht nötig ist, damit die Müllberge nicht wachsen, die Ressourcen nicht verschwendet werden. Für Solidarität mit den Frauen, die auch in diesem Land nicht sicher sind. Für Solidarität mit denen, die immer unter Generalverdacht stehen, weil jemand Schuld sein soll.
Manche Fragen sind kompliziert zu lösen und manche sind ganz einfach, wenn jemand den Mut hat, sie umzusetzen und sich von seinen ganzen Aufsichtsratsposten und Lobbyisten nicht schmieren und verführen lässt.
Ich denke, wir können es uns nicht mehr leisten, abzuwarten, ob alles von alleine wieder gut wird. Denn dann zerbrechen unsere Kinder unter der Last, die sie jetzt schon tragen.
Wir sind die Erwachsenen!
Es gibt eine große Demo gegen Rechts und für Solidarität und Klimaschutz. Sie findet heute statt. In deiner Straße. An der Wahlurne.