Es gehört seit einiger Zeit in der Politik dazu, andere herabzusetzen, Sündenböcke zu finden und viel Wind um Banalitäten zu machen, um vom Wesentlichen abzulenken.
Das ist ekelhaft. Aber ich habe mich fast schon dran gewöhnt. Doch mittlerweile nimmt es immer absurdere Formen an. Kinder und Kinderliteratur herabzusetzen? Das ist eine ganz neue Form von Überheblichkeit, die mich erstmal sprachlos gemacht hat.
Auf der Verleihung des Jugendliteraturpreises während der Frankfurter Buchmesse 2024 bezieht Ministerin Lisa Paus Stellung und ich möchte heute meine Eindrücke von der Veranstaltung und meine Gedanken zum Schimpfwort „Kinderbuchautor“ teilen.
1. Lesen ist die Grundlage für ein selbstbestimmtes und wirtschaftlich erfolgreiches Leben
Laut der neusten Jugendstudie verlässt jedes 4. Kind die Grundschule, ohne Sinn-entnehmend lesen zu können. Diese Erkenntnis stellt Ministerin Paus an den Anfang ihrer Rede.
Lesen ist die Grundlage für ein selbstbestimmtes und wirtschaftlich erfolgreiches Leben. Es ist eine Gefahr für unser Land und unsere Gesellschaft, wenn ein Viertel der Heranwachsenden nicht mit dem ausgestattet sind, was sie brauchen, um dieses Leben zu führen und verantwortlich Entscheidungen für sich zu treffen.
Zum Lesen lernen gehört Literatur. Eine Literatur, die klein anfängt und dann mit den Kindern und ihren Fähigkeiten mitwächst. Erst einzelne Worte, dann kurze Sätze und schließlich komplexe Geschichten, die sich über Hunderte von Seiten ziehen. Irgendjemand sollte diese Geschichten schreiben, denn die KI produziert da noch viel unsinniges Zeug.
2. Wer liest, wird dialektischer – und das ist gut für unsere Demokratie
Das Lesen ist ein guter Baustein für das Gelingen unserer Demokratie. Es fördert die Werte, die das Zusammenleben fairer und friedlicher machen können. Jedes Jahr kommen neue Studien heraus, die das belegen und bestätigen.
Wir können nur miteinander diskutieren, wenn wir das gegenüber verstehen, uns in es hineinversetzen können und erkennen, dass die Welt nicht schwarz weiß ist. Das erleichtert das Gespräch und die positive Auseinandersetzung mit verschiedenen Positionen.
3. Wer liest, wird resilienter – und das hilft, Herausforderungen zu überstehen
Paus betont in ihrer Rede auch, dass noch kein Jahrgang so divers war wie in diesem Jahr und doch suchen alle befragten Jugendlichen nach Orientierung und Sicherheit. Das vereint sie.
Ich sehe es seit Jahren auf den Straßen. Wir schaffen es als Erwachsene nicht mehr, den Kindern diese Sicherheit mit in die Wiege zu geben. Sie trauen uns nicht mehr zu, dass wir das Steuer noch rumreißen. Sie gehen in ihrer Verzweiflung auf die Straße und kleben sich am Boden fest. So groß ist ihre Angst vor der Zukunft und so klein ist ihr Vertrauen in eine Gesellschaft, die nicht nur für sich selber sorgt, sondern auch für die, die nach ihnen kommen werden.
Wer liest, wird dialektischer, sagt Paus. Wer liest, wird diskursfähiger und einfühlsamer. Wer liest, wird resilienter und kann mit seinen eigenen Gefühlen besser umgehen.
Wir brauchen das Gespräch miteinander, den Blick über den Tellerrand und die Bereitschaft, nicht nur für sich selbst zu sorgen. All das entsteht, wenn Menschen lesen und sich auf das Abenteuer einlassen, in die Gedanken von anderen Menschen oder Tieren zu schlüpfen. Das hilft, den eigenen Horizont zu erweitern und neue Handlungsmöglichkeiten zu sehen und mit den Heldinnen der Geschichten zu erleben.
4. Geschichten erweitern den Handlungsspielraum
„Bücher wirken auf die Seele, die Phantasie, unser Miteinander“, sagt Paus.
Ich zitiere oft Gerald Hüther, wenn ich über das Geschichten erzählen rede. Weil er immer wieder deutlich macht, dass wir Entscheidungen treffen können und neue Wege gehen können, von denen wir uns im Kopf ein Bild gemacht haben. All die Geschichten, die wir als Kind gelesen haben, bilden die Grundlage dafür. Wir brauchen einen Kopf voller Bilder und Möglichkeiten. Ein Kopfkino. Alles muss erst gedacht und vorgestellt werden, um dann in die Welt zu kommen und umgesetzt zu werden.
Unser Kopf muss mit Geschichten gefüttert werden.
Auch Paus betont das in ihrer Rede. Sie sagt, wie die Welt von morgen aussieht, hängt von der Vorstellungskraft ab. Denn alles muss vorher gedacht werden. „Zu lesen, zu staunen, weiterzudenken – das lohnt sich immer“, schließt sie. Im Saal gibt es großen Applaus.
Dann werden die Bücher vorgestellt, die für den Jugendliteraturpreis nominiert worden sind. Es gibt keinen Friede-Freude-Eierkuchen-Titel. Es sind Bücher über Krieg und Einsamkeit, über Zugehörigkeit und Akzeptanz. Es sind die Themen, die auch die Erwachsenen bewegen. Es sind die großen Themen der Menschheit, die seit Jahrtausenden bedacht werden und immer wieder neu erzählt werden müssen.

Kinderbuchautor ist kein Schimpfwort, sagt auch die Moderatorin am Ende noch einmal. Ich finde es traurig, dass wir das im öffentlichen Raum sagen müssen.
Ich denke an all die Erzieherinnen und Lehrerinnen, mit denen ich in den letzten 20 Jahren zusammengearbeitet habe und die ich kennengelernt habe. Sie alle haben diesen Beruf ergriffen, um genau das zu tun: Kindern ermöglichen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen und das friedliche Miteinander in diesem Land zu stärken.
5. Kinder haben sonst keine Lobby
In der Zusammenfassung der Shell-Jugend-Studie ist eine Überschrift auch in diesem Jahr wieder die Abhängigkeit der Bildung der Kinder von der Bildung der Eltern. Kinder werden nicht zur Chefsache gemacht. Im Gegenteil. Sie werden dafür benutzt, politische Gegner herabzusetzen und auf ihrem Rücken werden wirtschaftliche Interessen ausgetragen. Die Ministerin kommt selbst zur Preisverleihung. Aber hat das auch politische Konsequenzen oder ist das nur eine nette Geste? Wie wird das Geld im nächsten Haushalt verteilt?
Eltern und pädagogische Fachkräfte machen Kinder zur Chefsache. Kinderbuchautorinnen helfen ihnen dabei. Sie erzählen Geschichten, die beim Lesen lernen helfen oder Alternativen anbieten, wie Streit gelöst oder stressfrei ein Zimmer aufgeräumt werden kann. Kinderbuchautorinnen wollen Kinder stark machen und ihnen helfen, sich in andere Welten zu flüchten, um anschließend gestärkt oder erholt daraus zurück zu kommen. Genau wie Eltern und pädagogische Fachkräfte verdienen sie damit kaum Geld. Sie sind weit entfernt von den Managergehältern irgendwelcher Konzerne.

Dabei versuchen sie wie die Eltern die Kinderseelen vor Schaden zu bewahren und bei Verletzungen und Missbrauch zu trösten. Zusammen mit den Eltern und Pädagoginnen an verschiedenen Stellen gibt es da eine kleine Industrie rund um Kinderbücher. Der Rest der Gesellschaft macht bei dem Schutz der Kinderseelen keine gute Figur.
Geschichten können die Welt verändern
Kinder brauchen Geschichten. Darüber sind schon viele Bücher geschrieben und Studien erstellt worden. Geschichten helfen in der Entwicklung, fördern die Bindungsfähigkeit, die Resilienz und die Ausdrucksmöglichkeiten. Sie fördern den Diskurs und die Fähigkeiten, andere Perspektiven einzunehmen. Wir brauchen Geschichten für unsere Kinder, die ihnen helfen, gleichzeitig selbstbewusst und einfühlsam, bildungsfähig und weltoffen zu werden.
Sich darüber lächerlich zu machen spricht für einen sehr unempathischen Geist und ist außerdem äußerst kurzsichtig gedacht. Irgendwann werden die, die jetzt Kinder sind, die Geschicke dieses Landes lenken. Wen möchtest du in der Regierung haben? Egoistische Arschlöcher oder Menschen, die über den eigenen Tellerrand schauen und auch für andere Verantwortung übernehmen?
Ich habe mich entschieden. Ich gehe jetzt Geschichten schreiben.
4 Antworten
Liebe Antoinette,
danke für diesen Blogartikel!
Ich könnte bei der Preisverleihung nicht dabei sein, aber kann dir (und der Ministerin) nur ausdrücklich zustimmen!
Meine Kinder sind lesend groß geworden und heute erlebe ich sie reflektiert und sprachlich ausdrucksstark. Die eigene Phantasie, fremde und bekannte Welten kennenzulernen, vor allem der eigenen Neugierde immer wieder folgen, sind ebenfalls Ergebnisse des Lesens.
Ich danke dir, dass du eine der vielen Kinderbuchautor:innen bist, die zur Bildung verantwortungsvoller junger Menschen beitragen.
Schreib. Bitte. Danke.
Viele Grüße
Gabi
Liebe Gabi,
vielen Dank für deinen schönen Kommentar und die Ermutigung an alle Kinderbuchautor:innen! Ich freue mich, dass du ein Zuhause voller Geschichten geschaffen hast und den Effekt bei deinen Kindern siehst. Toll 🙂 Du tust ja auch deinen Teil dazu, Menschen zum Schreiben zu inspirieren. Vielleicht brauchen wir einen geheimen Händedruck oder besser ein paar T-Shirts, damit wir uns auf der Straße alle erkennen und ermutigen können. Die Welt braucht Geschichten.
Liebe Grüße, Antoinette
Liebe Antoinette,
vielen Dank für diesen wichtigen Blogartikel, den du über die Verleihung des Deutschen Jugendliteraturpreises auf der Frankfurter Buchmesse geschrieben hast. Ich war auch da und habe die Rede von Ministerin Lisa Paus mit großem Interesse verfolgt. Besonders schockiert hat mich die Zahl, wie viele Grundschüler*innen die Grundschule verlassen, ohne sinnentnehmend lesen zu können: ein Viertel! Krass! Friedrich Merz sollte sich schämen, Kinderbuchautor*innen zu belächeln und herabzustufen und sollte sehen, was für eine große Zahl an herausragenden Kinder- und Jugendbüchern hier vorgestellt wurden – und noch mehr im letzten Jahr bei der Nominierung. Sie leisten so einen wichtigen Beitrag, dass unsere Kinder selbstständig denkend, sensibel und weltoffenen heranwachsen.
Ich liebe deinen Schlussatz! Schreib weiter Kinderbücher! Ich begleite als Lektorin den HORAMI Verlag seit gut zehn Jahren und habe bisher alle Titel dieses wunderbaren Verlags lektoriert. Sie haben in diesem Jahr nicht nur mit “Wünsche” den Deutschen Jugendliteraturpreis gewonnen, sondern auch den Deutschen Verlagspreis. Ich bin glücklich und dankbar, Teil des Verlagsteams zu sein und dazu beizutragen, besonders wertvolle Kinderbücher auf den Markt zu bringen.
Herzliche Grüße
Kerstin
Liebe Kerstin,
danke für deinen Kommentar und auch an diesem Ort nochmal herzlichen Glückwunsch! „Wünsche“ ist wirklich ein außergewöhnliches Buch, das ich unbedingt ganz lesen will. Ich habe schon bei der Vorstellung der nominierten Bücher eine Gänsehaut bekommen. Schön, dass du dich von solch blöden Sprüchen auch nicht aus der Ruhe bringen lässt und weiter Übersetzungen und Originaltitel polierst, damit die bestmögliche Geschichte zu den Kindern kommen kann.
Herzliche Grüße, Antoinette