Prokrastination vs. Kreativer Dilettantismus

Das Wort Prokrastination steht auf jedem dritten Thumbnail, wenn ich die YouTube App öffne. Irgendwie scheint der Algorithmus anzunehmen, ich hätte ein Problem mit Prokrastination.

Was ist Prokrastination?

Prokrastination ist eine alte Gewohnheit mit einem neuen Namen. “Aufschieberitis” hat meine Oma früher dazu gesagt. Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen.

Ja, ich gebe es zu. Ich habe mich in meinem Leben schon sehr viel mit Zeitmanagement beschäftigt und auch darüber geschrieben. Auf meinem Schreibtisch liegen immer mehrere Stapel mit angefangenen Projekten. Nicht mehrere Projekte, sondern mehrere Stapel. Das war leider kein Tippfehler.

Aber ich verschiebe sie nicht. Ich bin nicht faul. Ich bin den ganzen Tag auf den Beinen. Von morgens bis abends. Ich backe und koche, klebe Pflaster auf aufgeschürfte Knie und frage Vokabeln ab. Ich arbeite in meinem Job und zusätzlich noch an meinen Schreibprojekten oder an der Website. Ich gehe mit dem Hund spazieren, ich kaufe Lebensmittel und Taschentücher. Ich fahre die Kleine zum Schwimmunterricht und mache für alle Kinder Termine bei der Zahnärztin. Ich bin nicht faul. ich habe dafür gar keine Zeit. Trotzdem liegen da diese Stapel auf meinem Schreibtisch und schauen mich an. Ich arbeite mittlerweile auf dem Sofa, weil an meinem Schreibtisch kein Platz mehr ist. Oft bis abends spät.

Gestern Abend habe ich zum Beispiel noch versucht herauszufinden, wie man Wohnwagenfenster repariert, wenn es reinregnet. Und da waren sie wieder. All die Menschen, die mir Tipps geben wollen, damit ich endlich das Wichtige nicht mehr vor mir herschiebe. Immer wieder werde ich schwach. Dann höre ich mir an, wie ich meinen Alltag noch effektiver organisieren kann. Wie ich Zeitblöcke in einem Google Kalender eintrage und all die alten Weisheiten mit den großen Steinen und den kleinen Steinen und dem Frosch, den man gleich früh am Morgen schlucken oder küssen soll. Ich weiß es nicht mehr.

Ein Visionboard und ein Kanban Board gehören fast immer dazu. Habe ich beides schon oft angelegt. Das macht auch Spaß. Das Problem ist, dass ich sehr gerne Ziele stecke und einen Fokus für den Monat festlege. Aber nach ein paar Wochen (manchmal auch Tagen) finde ich den nicht mehr sinnvoll. Dann habe ich meinen Plan geändert oder es hat sich die Möglichkeit ergeben, ein anderes Projekt umzusetzen. Ich habe in einem Onlinekurs etwas Neues gelernt oder mich durch ein Buch wieder auf eine andere Fährte führen lassen. Deshalb plane ich mittlerweile mit Klebezetteln. Die kann ich dann wieder abnehmen oder woanders hinkleben.

All diese Tools haben für mich aber immer einen unangenehmen Beigeschmack. Denn sie riechen nach Selbstoptimierung und dieses Wort mag ich nicht. Ich bin neugierig und ich will dauernd etwas Neues lernen. Aber nicht, damit ich ein besserer, effektiverer Mensch bin. Sondern weil es mir Spaß macht.

Niemand muss sich optimieren, um optimierter zu sein. Das passt nicht zu meinem Menschenbild.

Jeder Mensch ist einzigartig und wunderbar

Das glaube ich wirklich. Ich sage das allen, die es hören wollen. Du bist wunderbar gemacht, du musst niemanden etwas beweiden. Du darfst der Mensch sein, der du sein möchtest. Niemandem schaden und anderen nichts wegnehmen – das ist die einzige Einschränkung. Aber dieses Optimieren, immer höher und weiter, das bringt uns als Menschheit gerade in Schwierigkeiten. Im Großen und im Kleinen.

Gestern Abend bin ich dann nicht mehr dazu gekommen, mein Fenster zu reparieren. Ich war zu abgelenkt von den Videos, die mir vorgeschlagen wurden.

Ich fühle mich ertappt. Ich habe zu Zeitmanagement und Life Hacks recherchiert, bis mir die Augen zugefallen sind. Vielleicht habe ich doch ein Problem mit Prokrastination? Oder diesem anderen Phänomen, bei dem man sich dauernd von interessanten Infos ablenken lässt. Shiny Objects Syndrom heißt es. Dazu wurden mir auch schon öfter Videos vorgeschlagen.

Ich habe schlecht geschlafen, weil ich Angst um die Herbstferien hatte. Wenn ich das Fenster nicht repariere, können wir nicht wegfahren. Jedenfalls nicht, wenn es regnet. Heute Morgen will ich es noch einmal versuchen. Ich öffne die YouTube App und klicke auf ein Video.

Was ist kreativer Dilettantismus?

Ein Mann mit einer Glatze, der sonst über seine Skizzenbücher redet, erzählt mir fröhlich, dass er sehr viele Dinge kann. Aber alle nur ein kleines bisschen. Das ist mir sehr sympathisch. Er nennt es kreativer Dilettantismus und er feiert es. Er macht sich keine Vorwürfe, dass er seine Projekte nicht zu Ende bringen kann, weil er dauernd abgelenkt ist. Im Gegenteil. Er findet, dass diese ganzen Ausflüge ihn in seinem eigentlichen Zeichnen unterstützen. Denn so hat er ja dauernd neue Inspiration. Außerdem hält er sich für einen sehr unterhaltsamen Dinner-Gast. Er ist selbstbewusst, das muss man ihm lassen.

Aber ich liebe diese Umdeutung. Ich verschiebe mein Schreiben nicht. Ich schreibe eben manchmal sehr langsam und manchmal sehr schnell. Dazwischen folge ich meiner Intuition. Heute in der Mittagspause wollte ich eigentlich einen Blogbeitrag schreiben. Aber ich habe mich entschlossen, eine Kiste aus dem Keller zu holen und durchzusortieren. Wir müssen den ganzen Keller wegen eines Wasserschadens in den nächsten Wochen ausräumen. Habe ich das schon erwähnt? Ich habe also eine Kiste hochgeholt. Darin sind Lätzchen, die ich vor ewigen Zeiten für meine Kinder bestickt habe. Sie sind nicht fertig. Soll ich sie aussortieren? Kann sie noch jemand gebrauchen? Ich stöbere in den Heften mit Stickstichen, die in der Kiste sind. Dann nehme ich ein Geschirrhandtuch und sticke eine Lavendelpflanze. Die Nadel und der Faden sind für den feinen Stoff viel zu dick und ich hinterlasse überall kleine Löcher.

Aber es macht mir Spaß. Ich kann dabei etwas zur Ruhe kommen und über mein Zeitmanagement nachdenken. Ich habe meinen Kindern früher immer gepredigt, wie wichtig es ist, dass sie sich ab und zu mal langweilen. Dann kann das Gehirn in Ruhe aufräumen und alles sortieren. Das Gehirn braucht Pausen. Es kann nicht alles dauernd optimiert werden.

Der kreative Dilettantismus ist nicht das Gegenteil von Prokrastination.

Es ist eher eine Folge davon. Wenn du mir erlaubst, Prokrastination nicht als etwas Verachtenswertes zu sehen, was wie eine Krankheit bekämpft werden muss. Prokrastination ist vielleicht die Antwort unserer Gehirne auf die ständigen Eindrücke, die auf uns einprasseln. Die Nachrichten, die ständige Erreichbarkeit, du kennst das alles. So ist die Welt eben gerade. Und da wir zur Zeit nicht auswandern und in einer einsamen Hütte im Wald oder auf einem Segelboot im Pazifik leben können, brauche ich für mein Gehirn einen anderen Plan. Das erscheint mir das Prokrastinieren, im Sinne von: mal einem Impuls einfach folgen und nicht perfekt optimiert und effektiv zu sein, eine gute Idee. Daraus folgt dann der kreative Dilettantismus: Ich kann viele Dinge ein bisschen.

Jetzt brauche ich nur noch eine gute Möglichkeit, dieses Wissen auch anzuwenden, denn ich bin schon seit Jahren nicht mehr auf einer Dinner-Party gewesen. Vielleicht schreibe ich eine Buchserie, in der alle Hauptfiguren unterschiedliche Hobbys haben. Eine sollte in jedem Fall sticken. Schließlich kann ich jetzt endlich wieder den Plattstich und den Stielstich. Ich liebe diese “30 days of…” Videos. Das wäre auch eine gute Idee. Aber wahrscheinlich halte ich keine 30 Tage durch. Schließlich muss ich morgen die nächste Kiste aus dem Keller holen. Wer weiß, was da drin ist?

Ich werde heute Abend darüber nachdenken, wenn ich mit den Jungs eine Folge “Lost” schaue und vielleicht noch den Fliegenstich lerne. Jetzt muss ich erstmal herausfinden, wie ich mein Fenster wieder dicht bekomme.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Hier findest du mehr zum Thema

Bible Art Journaling, Bild von Hamburg von Antoinette Lühmann

Was ist Bible Art Journaling?

Alte Geschichten sind durch viele Köpfe und Herzen gegangen und mündlich weitererzählt worden. Solange, bis nur noch das Wichtigste übrig geblieben ist. Deshalb stecken Bibelgeschichten wie alte Märchen voller Weisheit. Um sie zu entdecken nutze ich Bible Art Journaling. 


Weiterlesen »
Malen auf dem iPad Antoinette Luehmann

Digitales Zeichnen

Das Gehirn braucht Inspiration und etwas zum Spielen! Dafür eignet sich das Malen und Zeichnen – auch digitales Zeichnen. Zum Beispiel mit einem ipad.

Weiterlesen »
Bullet Journal Antoinette Luehmann

Bullet Journal

Das Bullet Journal ist die Eierlegendewollmilchsau im Zeitmanagement. Es passt sich Woche für Woche deinem Leben an und hat auch deine langfristigen Ziele immer im Blick.

Weiterlesen »
error: Content is protected !!