Seit ich Schreiben gelernt habe, schreibe ich. Jeden Tag.
1. Schreiben bringt Klarheit für das eigenen Leben
Mein erstes Tagebuch war ein quadratisches rosa Büchlein vom Barbieclub. Das Geschenk meiner Oma. Später nutzte ich alle Notizbücher, die ich in die Finger bekam und die mit meinem kleinen Taschengeld erschwinglich waren. Mit 12 schenkte mir meine Tante ein hübsches Büchlein mit einem Leinenumschlag und einem kleinen Vorhängeschloss. Im Prinzip eine gute Idee. Vor allem weil ich mir ein Zimmer mit meinem Bruder teilte. Leider war ich zu schusslig. Der Schlüssel war dauernd verschwunden. Aber mein Tagebuch war trotzdem sicher, denn mein Bruder hasste das Lesen so sehr wie ich es liebte. Solange ich meine Gedanken nicht auf Band sprach und in die Hülle einer John Synclair Kassette steckte, konnte nichts passieren.
Mittlerweile schreibe ich nicht mehr Tagebuch, um zu dokumentieren, was ich erlebt habe. Aber das tägliche freie Schreiben nutze ich noch immer. Ich schreibe zum Beispiel jeden Morgen Morgenseiten. Dieses Schreiben hat eine meditative Wirkung für mich. Ich schaue zu, was meine Hand zu Papier bringt und dadurch sehe ich, was ich denke und was mir sonst verborgen geblieben wäre.
Wenn ich Morgenseiten schreibe, starte ich mit Klarheit in den Tag. Ich habe eventuell Erlebnisse des letzten Tages für mich eingeordnet und finde heraus, welches Thema heute für mich relevant ist. Manchmal beende ich die Morgenseiten mit einem Fokus für den Tag oder drei Dingen, die ich tun möchte. Ich fühle mich mehr mit mir verbunden und lasse mich von dem lauten Alltag nicht so schnell aus der Bahn werfen.
Morgenseiten bringen Klarheit in meine Gedanken und helfen mir trotz der Ablenkungen des Tages, meine Anliegen im Blick zu behalten.
2. Mit dem Schreiben kannst du Erlebnisse verarbeiten
Das freie Schreiben wird in vielen Bereichen rund um die Gesundheit genutzt. Zum Beispiel werden traumatische Erlebnisse durch das Aufschreiben auf das Papier gebannt, ein Brief an das ungeborene Kind geschrieben, um sich auf die Geburt vorzubereiten oder eine Nachricht an eine Verstorbene verfasst, um sich zu verabschieden.
Aber das Schreiben hilft auch in alltäglichen Situationen, wenn man sich hilflos fühlt.
Direkt nach der Geburt unseres vierten Kindes wussten wir nicht, wie wir Urlaub machen sollten. Wir hatten schon zwei schulpflichtige Kinder und die Häuser in Dänemark waren in der Hauptsaison nicht mehr bezahlbar. Mein Mann hatte keine Lust mehr, auf Luftmatratzen im Zelt zu schlafen und Fliegen mit sechs Personen war natürlich völlig ausgeschlossen. Ein Wohnmobil schien eine gute Lösung zu sein. Wir sind nicht auf einen Ort festgelegt und haben viel Platz für alles, was Urlaub mit Kindern schön und entspannt macht. Es hat sehr lange gedauert, bis wir ein Wohnmobil gefunden hatten, das sechs drei Punkt Gurte für die vier Kindersitze und uns Erwachsene hatte.
Der Verkäufer war sehr nett. Das Fahrzeug wurde nochmal durchgecheckt und uns dann von dem Händler mit frischem TÜV überreicht. Nach ein paar Monaten sahen wir dann das Elend: alle feuchten Stellen waren sorgfältig überklebt worden. Der ganze Unterboden war verrottet und wir bekamen keinen TÜV mehr. Der Händler berief sich auf die abgelaufene Garantie. Ein Mitarbeiter der Werkstatt riet uns heimlich, seinen Arbeitgeber zu verklagen, weil das Vorsatz war.
Ich war vollkommen verzweifelt. Dieses Wohnmobil war meine Freiheit. Ich war mit dem ersten Kind oft im VW Bus unterwegs gewesen, wenn mein Mann im Ausland war. Ich brauchte die Möglichkeit, ab und zu einen Tapetenwechsel zu haben. Aber nun konnte ich mit dem Fahrzeug nicht fahren und es mit dem Schaden auch nicht verkaufen. Jede Werkstatt schätzte den Aufwand auf ca 10.000 Euro, aber wollte den Auftrag nicht übernehme. Wir hatten sowieso nicht genug Geld, um das zu bezahlen.
Obwohl ich in meinem Leben schon viel erlebt habe, hatte ich erst zwei Mal das Gefühl, dass ich einen Menschen hassen könnte. Wir hatten uns vorher gut informiert und dann das Fahrzeug bei einem Händler mit Gebrauchtwarengarantie gekauft. Nur eine Dichtigkeitsprüfung hätte die verdeckten Schäden ans Licht gebracht. Aber die war ja angeblich gerade gemacht worden. Ich hatte den Bericht gesehen.
Der Schaden war an verschiedenen Stellen sorgfältig zugeklebt worden. Ich war völlig fassungslos, dass jemand das absichtlich verschwieg und jemandem vorsätzlich ein Fahrzeug verkaufte, dass so stark beschädigt war.
Der Verkäufer hatte mir ins Gesicht gelogen und ich konnte keinen Urlaub mehr machen, das Fahrzeug nicht reparieren lassen oder verkaufen. Ich saß mit Baby und drei kleinen Kindern in der Wohnung und wusste nicht weiter.
Ich schrieb gerade an meinem zweiten Roman. In den Straßen von Paris gab es eine Schlägerei. Ich stellte mir das Gesicht des Verkäufers vor und schrieb eine Szene, in der er verprügelt wurde. In der nächsten Nacht schlief ich besser. Ich überlegte am nächsten Tag, ob ich eine Kolumnen darüber schreiben sollte oder einen Anwalt anrufe. Aber ich hatte kein Geld für einen Rechtsstreit mit einer großen Firma. Also schloss ich eine Rechtsschutzversicherung ab und kaufte eine kleine Handkreissäge und Holz. Damit fuhr ich zu meinem Bruder. Er war mittlerweile Tischler und legte sich mit mir unter das Wohnmobil, um die nassen Stellen rauszuschneiden und zu ersetzen. Ich bekam wieder TÜV und wir konnten zusammen in den Urlaub fahren.
Und die Moral von der Geschicht? Manchmal kann man nichts tun. Aber auf dem Papier kann man immer etwas tun. Zumindest die Wut und die Ohnmacht loswerden. Und das hilft, dann doch wieder ins Tun zu kommen.
3. Schreiben ist eine Kommunikationsschule
Ich habe in den letzten Jahren die verschiedensten Texte geschrieben. Aufsätze, Hausarbeiten, Referate, Briefe, Romane, Kurzgeschichten, Liebesbriefe, Hörbücher, Lieder, Theaterstücke, Gedichte, Musicals, Radioandachten, Märchen, den Anfang einer Doktorarbeit, unzählige Bücher voll mit Morgenseiten, Minutennovellen, Konzepte, Andachten, Trauerreden, Predigten, Blogbeiträge, Kolumnen.
Ich kann genau ausdrücken, was ich empfinde. Ich übe das mit jedem Wort, das ich schreibe. Meine Schwiegermutter sah mich ganz gerührt an, als sie die Karte las, die ich meiner Nichte zum Abi geschrieben hatte. „Wie machst du das?“, fragte sie. „Ich könnte das nie.“ Ich zuckte mit den Schultern. Ich mache das nicht. Es ist mittlerweile mein Beruf, genau das zu sagen oder zu schreiben, was ich sagen will. Ich suche das richtige Wort, den richtigen Ausdruck. Ich finde ihn schnell, weil ich das schon so oft gemacht habe. Natürlich ist der Stil auch immer Geschmacksache und nicht jeder mag, was ich schreibe. Aber ich kann mich ausdrücken.
Das Schreiben schult meine Kommunikation, so wie über 30 Jahre in einer Arztpraxis das medizinische Wissen meiner Schwiegermutter geprägt haben. Ich könnte außer einer Kopfschmerztablette und den fiebersenkenden Mitteln, die ich meinen Kindern früher in den Po geschoben habe, kein einziges Medikament beim Namen nennen. Sie kennt sich aus mit Medikamenten und Diagnosen, mit dem ein oder anderen lateinischen Fachbegriff und der Organisation einer Sprechstunde. Ich kenne mich mit Worten aus.
4. Schreiben ist wie ein Rausch
Ich nehme keine Drogen und seit einigen Jahren trinke ich auch keinen Alkohol mehr. Sehr selten mache ich davon eine Ausnahme. Mein Vater war Alkoholiker und jedes alkoholische Getränk macht mir ein mulmiges Gefühl.
Aber wenn ich schnell genug schreibe, komme ich in den sogenannten Flow. Meine Finger fliegen über die Tastatur und ich kann gar nicht so schnell tippen, wie ich die Bilder vor meinem inneren Auge sehe und die Worte in meinem Kopf höre. Ich nehme mir schon seit Jahren immer wieder vor, dass ich lerne, mit zehn Fingern zu tippen. Aber ich bin auch mit Vieren sehr schnell.
Als ich letzte Woche im ICE saß, packte ich meinen Laptop aus. Ich hatte Zeit von Hamburg bis Hannover, um eine Kolumne zu schreiben. Die Abgabefrist war schon lange verstrichen, aber ich hatte um Aufschub gebeten, weil ich beim Tippen immernoch Schmerzen in der Hand gehabt hatte. Die Zeit rast und ich hatte nur einen ersten Satz im Kopf: Seit ein paar Wochen gehe ich regelmäßig mit einem Pony spazieren. Mehr hatte ich noch nicht. Das Thema waren Haustiere und ich wollte über unseren Hund und die Hühner schreiben. Ich nahm mir zehn Minuten Zeit, um ein Cluster anzulegen. Dann hatte ich eine Idee für den Bogen und begann zu schreiben.
Irgendwann schaue ich auf, weil ein älterer Mann direkt vor mir steht. „Können Sie das leiser stellen?“ Ich bin verwirrt. Waren meine Kopfhörer nicht dicht? Ich hatte leise Filmmusik an, damit mich die Gespräche im Waggon nicht ablenkten. „Was denn?“, frage ich. Er zeigt auf meinen Computer. Ich überlege. „Die Tasten?“ Er nickt. „Das stört.“ Ich schüttele den Kopf. „Das sind mechanische Tasten. Die kann ich nicht leiser stellen. Aber ich bin gleich fertig.“ Er brummt etwas und setzt sich wieder hin. Ich überlege, ob ich noch eine patzige Antwort geben soll, aber dann beuge ich mich über meine Kolumne und tippe ganz langsam die letzten Sätze. Das ist leiser, aber macht nicht so viel Spaß. Kein Flow.
Ich speichere und schicke den Text ab. Noch eine Viertelstunde bis Hannover. Hinter mir beginnt jemand zu telefonieren. „Ich kann eigentlich nicht sprechen, ich bin im Ruhewagen, aber sag mal kurz, wie ist das mit…“ Er telefoniert, bis ich aussteige. Den alten Mann vor mir stört es nicht. Obwohl ich nicht glaube, dass ich lauter getippt habe. Ich weiß jetzt alles über den aktuellen Stand der Projekte in der Agentur des Typen, der hinter mir sitzt. Der alte Mann vor mir liest sein Buch. Vielleicht hat er sein Hörgerät ausgeschaltet. Ich überlege, ob ich eine Geschichte schreibe, in der ich ihn verkloppen kann. Aber dann muss ich aussteigen. Vielleicht später.
Wer keine Deadline hat und nicht im Zug sitzt, kann die Pomodoro Technik oder einen Schreibsprint zum Beispiel beim Nanowrimo nutzen, um in diesen Flow zu kommen. Ist einfach schön.
5. Du kannst sein, wer du sein willst, wenn du schreibst
Schauspielerinnen sagen oft, sie lieben es, in andere Rollen zu schlüpfen und haben deshalb diesen Beruf ergriffen.
Ich habe während der Schulzeit auch viel Theater gespielt und es war lange mein Traum, einen Disneyfilm zu synchronisieren und in die Rolle einer Märchenfigur zu schlüpfen. Natürlich nur, wenn ich auch singen darf. Aber irgendwann ist mir klar geworden: ich bin keine Schauspielerin. Ich bin eine Autorin.
Denn wenn ich schreibe, tauche ich noch tiefer ein und ich bestimme selbst, welche Realität das ist, in die ich tauche. Ich bin schon über die Dächer von Amsterdam und London gelaufen, auf einem Segelschiff der Ostindienkompanie über die Nordsee gesegelt, in einem Luftschiff geflogen und durch die Kanäle unter der Stadt Paris gerannt. Ich bin auf Drachen geflogen und in die tiefsten Gewässer getaucht. All das ist möglich, wenn du schreibst. Du kannst dort hingehen, wo du hingehen möchtest. Niemand kann dich aufhalten.
Natürlich geht das auch beim Lesen. Aber da musst du erst einmal eine Person finden, die die gleichen Träume hat wie du und dich mitnimmt auf die Reise. Wenn du selbst schreibst, bist du die Kapitänin. Oder was auch immer du sein willst.
Beim Schreiben kannst du die Realität verändern. Du kannst sein, wer du sein willst. Du kannst mutig sein und soziale Ungerechtigkeit anprangern. In einer Kolumne oder einer Geschichte. Alles ist möglich.
4 Antworten
Hallo Antoinette,
hei, wie cool, du bist auch Autorin wie ich und Schreiben ein nicht wegzudenkender Teil deines Lebens 🙂 Wie schön, dich hier zu treffen und deinen Blogartikel lesen zu können.
Ich habe mich in deinen Gründen wiedergefunden!
Viele Grüße zu dir,
Gabi
Liebe Gabi, vielen Dank für die lieben Grüße! Schön, einen ähnlich tickenden Geist zu treffen 😊 Liebe Grüße, Antoinette
Hallo Antoinette,
ich habe deinen Blog zufällig entdeckt und festgestellt, dass ich eines deiner Bücher schonmal meiner kleinen Enkelin verschenkt habe 🙂
Deine Posts sind sehr inspirierend und machen Spass zu lesen.
Danke dafür.
Ich bin Schauspielerin und schreibe in meiner Freizeit kurze Geschichten oder teile einfach Gedanken und Beobachtungen aus dem zwischenmenschlichen Bereich.
Herzliche Grüße von Petra
Moin Petra,
das freut mich sehr! Hat das Buch deiner Enkelin denn gefallen?
Wie schön, dass du auch schreibst! Hast du auch schonmal was für deine Enkelin geschrieben?
Liebe Grüße, Antoinette