Warum ich Märchen erzähle

Geschichten spielen schon immer eine wichtige Rolle in meinem Leben. Ich hatte eine Karte für die Bücherei in unserem Dorf und später einen Ausweis für die Stadtbücherei in Celle. Dort habe ich mich durch alle Regale gelesen und Stapelweise Bücher nach Hause geschleppt.

Mit meinem ersten Kind sind auch Kinderbücher in unsere Wohnung eingezogen. Zum Geburtstag und zu Weihnachten gab es ein kleines Spielzeug, das sich der Kleine gewünscht hatte, und immer auch ein Buch. Mittlerweile haben wir Hunderte von Kinderbüchern und nicht nur wir Eltern lesen vor, sondern auch die Kinder für einander. Dann kuscheln sie sich aufs Sofa und einer malt oder häkelt und der andere liest vor. So teilen sie eine Geschichte.

Natürlich sieht es bei uns nicht jeden Tag so idyllisch aus. Aber es gibt diese Momente. Die Kinder versammeln sich um eine Geschichte und wollen sie miteinander teilen, anstatt sie alleine in einem Buch zu lesen oder eine Serie auf Netflix anzusehen. Auch das gehört natürlich zu unserem Alltag mit mittlerweile vier Kindern.

Märchen sind besondere Geschichten

Märchen nehmen für mich unter den Geschichten eine besondere Rolle ein. Sie sind meist schnell erzählt und wirken sehr lange nach. Sie beschäftigen sich ausschließlich mit den großen Themen des Lebens. Es geht immer um alles.

Märchensammlungen habe ich damals in der Stadtbücherei verschlungen und zu den verschiedensten Themen ausgeliehen. Nach der Geburt meines zweiten Kindes habe ich eine Ausbildung zur Märchenerzählerin gemacht. Ich hatte die Vorstellung, dass ich meinen Kindern Märchen am Feuer erzählen wollte. Aber in erster Linie taten mir die Märchen gut. Sie halfen mir, meine Rolle als Mutter zu klären und mich mit mir und meinen Zielen auseinander zu setzen. Ich konnte in den Gruppen auch erleben, wie sie anderen Menschen halfen, ihr Leben zu deuten und Antworten auf ihre Fragen zu finden.

Märchen sind mündlich weitererzählt worden und durch die Jahrhunderte geschliffen. In den großen, bekannten Märchen findest du alle Themen des menschlichen Lebens.

Sind Märchen sexistisch?

Das wird natürlich zurecht immer wieder gefragt. Ich bin eine große Verfechterin von modernen Kinderbüchern, in denen die alten Rollen aufgebrochen werden.

Bei Märchen sehe ich das anders. Jedes Märchen spiegelt für mich nicht nur eine Situation, in der sich Menschen befinden, sondern auch immer viele Aspekte unserer Persönlichkeit. Manchmal identifiziere ich mich bei dem Märchen Rotkäppchen eher mit dem Wolf, weil ich merke, ich bin in einer Situation gierig geworden. Manchmal mit der Großmutter, die im Bett liegt und so kraftlos ist, dass sie alles den anderen überlässt, und manchmal mit dem Jäger, der versucht alles wieder in Ordnung zu bringen.

Wer die Freiheit hat, sich mit all diesen verschiedenen Aspekten seiner Persönlichkeit im Märchen zu identifizieren, der oder die wird die Märchen benutzen, um selbst zu wachsen und wird die Märchen nicht missbrauchen, um alte Klischees und Rollen zu festigen. Wir müssen alle lernen, unseren Haushalt und unseren Geist aufzuräumen und zu klären. Egal ob Mann oder Frau oder einfach Mensch.

Der Vorwurf des Sexismus kommt aber auch oft von denen, die die Märchen nicht zu Ende lesen, sondern bei den Disney Varianten stehen bleiben. Rotkäppchen und die Großmutter überwältigen zum Beispiel am Ende des Märchens Rotkäppchen selbst auch noch einen Wolf und der Prinz, der an Rapunzels Haaren hoch in den Turm geklettert ist, wird von der Hexe geblendet und irrt blind durch die Welt. Er muss von Rapunzel in der Wüste gefunden werden. Nur ihre Tränen können ihm sein Augenlicht zurückgeben. Sie retten sich gegenseitig.

Das Märchen bedient nur bedingt die Rollenbilder des Patriarchats. Auf dem Märchenhof Rosenrot habe ich gelernt, dass wir Mann und Frau im Märchen auch als Verstand und Gefühl deuten können. Verstand und Gefühl müssen zusammenarbeiten. Siegt der eine über die andere, geschieht immer ein Unglück und die Welt gerät aus dem Gleichgewicht. Wie im wirklichen Leben.

Die Rollen im Märchen sind Archetypen, aber sie geben keine Weltordnung vor. Ich kann Märchen auch hören, wenn ich mich gar nicht einem Geschlecht zu ordnen möchte. Ich kann mich mit den Aspekten identifizieren, die ich heute beim Hören an mir entdecke. Morgen können das ganz andere sein. Die Rollen sind Schubladen, die mir helfen, bestimmte Situationen zu deuten, aber ich bleibe nicht in ihnen stecken. Ich habe alle Archetypen zur Verfügung. Ich bin nicht auf mein eigenes Geschlecht beschränkt.

Märchen eröffnen Handlungsspielraum

Ich erzähle Märchen, weil es mir in der Vorbereitung schon erlaubt, ganz tief in die Geschichte einzudringen und mich mit ihr auseinanderzusetzen. Ich kann mir selbst innere Bilder machen, die ich dann abrufen kann, wenn ich das Märchen frei erzähle.

Gehe ich mit Märchen in eine Schulklasse sind schon nach wenigen Augenblicken alle Kinder still, egal was sie vorher gemacht haben. Auch wenn das nach einem Klischee klingt: sie hängen an meinen Lippen. Egal, wie alt sie sind. Märchen haben diese Wirkung auf alle Menschen. Zumindest auf die Menschen, denen ich bislang begegnet bin.

Das freie Erzählen hat eine Intensität, der man sich kaum entziehen kann. Trotzdem hat es gegenüber dem Fernsehen einen großen Vorteil. Bilder entstehen nur im Kopf. Keine Situation überfordert die Kinder, denn sie stellen sich nur vor, was sie auch gut aushalten können. Bilder in Büchern oder bewegte Bilder auf dem Tablet oder Fernseher sind die Bilder von anderen Menschen. Ihnen können sich die Kinder nicht entziehen. Außerdem kann ich beim freien Erzählen meine Stimme anpassen, wenn ich sehe, dass sich die Kinder zu sehr um die Hauptfigur sorgen. Ich erzähle dann düstere Stellen mit einer eher neutralen, ruhigen Stimme und nicht dramatisch und spannend. Das ist besonders bei kleineren Kindern wichtig. Sie sind noch sehr stark mit ihrer Fantasie verbunden und Wirklichkeit und Geschichte vermischen sich.

Märchen stiften Kommunikation

Nach einem frei erzählten Märchen haben wir alle den gleichen Wortschatz. Auch wenn wir uns gerade erst getroffen haben. Wir können über intensive und heikle Themen ins Gespräch kommen, ohne uns persönlich zu entblößen. Wie ist das mit dem Vater, der seinen Sohn verstoßen hat, in dem Märchen „Die drei Sprachen“? Der Sohn hatte nicht das gelernt, was der Vater von ihm erwartet hat. Das Märchen berührt besonders Kinder in der Pubertät sehr. Sie können sich mit dem Verhalten von Vater und Sohn auseinander setzen, ohne über ihre eigene Situation oder das Verhältnis zu ihren Eltern zu reden. Sie wünschen sich so sehr, dass ihre Eltern hinter ihnen stehen und sie unterstützen, was auch immer passiert und welchen Weg sie einschlagen. Das Märchen hilft ihnen, auf den Vater wütend zu sein, wenn sie auf ihre eigenen Eltern noch nicht wütend sein können. Das unterstützt sie in ihrer Entwicklung und in der Abnabelung aus der Rolle des abhängigen Kleinkindes.

In Schulklassen erzähle ich Märchen nicht nur zur Unterhaltung. Wir nehmen uns meist Zeit, in die Geschichte einzutauchen und etwas zu finden, was die Kinder persönlich beschäftigt und angeht. In der Grundschule erzähle ich gerne das afrikanische Märchen „Die Sternenfrau“ und dann malen die Kinder. Ich frage sie, was in dem Korb gewesen sein könnte, den die Sternefrau aus dem Himmel mit auf die Erde gebracht hat und sie malen die wunderbarsten Schätze. Es ist unfassbar berührend, wenn sie stolz mit ihren Bildern zu mir kommen und erzählen, was sie vor ihrem inneren Auge gesehen und gemalt haben.

Manchmal lasse ich die älteren Kinder eine Geschichte weiter erzählen. Bei den drei Sprachen wünschen sich viele, dass der Vater bereut, dass er seinen Sohn verstoßen hat. Andere bleiben gedanklich bei dem Sohn. Sie sind stolz auf den Sohn, der sich trotz der immensen Verletzung durch seinen Vater nicht aufgegeben hat. Er hat seinen Kräften und Fähigkeiten vertraut und Menschen und Tieren geholfen. Zum Schluss ist er zu großer Weisheit gekommen und wird spirituell ein Vorbild.

Märchen und Religion

Seit ich Märchen erzähle, nutze ich sie auch in meinem beruflichen Kontext. Ich habe bei Seniorennachmittagen Märchen erzählt, um in ein Thema einzuführen oder sowohl biblische Geschichte als auch Märchen erzählt und mit den Frauen diskutiert, wie die Geschichten einander gegenseitig auslegen.

Wie sollte man über Gott und die Welt besser ins Gespräch kommen als über Geschichten? Jesus hat immer wieder Geschichten erzählt. In der Bibel heißt es oft: Jesus legte ihnen die alten Schriften aus. Er erklärte also, wie die alten Geschichten zu verstehen sein sollten. Es ist jedoch nicht überliefert, was er da erklärt hat. Aber seine Geschichten, die wurden weitererzählt und mit seiner Biografie verwoben. Sie haben sogar eine neue Gattung ans Licht der Welt gebracht: das Evangelium.

Im Studium bin ich in der Bibliothek auf ein kleines Büchlein gestoßen. Es war „Märchen im Alten Testament“ von Hermann Gunkel. Er schreibt darin, dass jedes Volk sich Märchen erzählt hat, um die Welt zu deuten und das Leben zu verstehen. Warum sollte das Volk Israel das nicht getan haben? Später habe ich mich mit meinem Professor darüber gestritten. Er konnte es nicht ertragen, dass ich meine Märchen mit den Bibelgeschichten gleich setzte. „Das ist etwas anderes“, sagte er. „Das ist die Heilige Schrift und kein Märchen.“

Während meines Vikariats, also dem praktischen Teil unserer Ausbildung nach dem Studium, sagte ein Studienleiter zu mir: „Frau Lühmann, sie müssen sich jetzt mal entscheiden, ob sie Märchenerzählerin oder Pastorin sind.“

Ich war tief getroffen. Ich hatte eine Andacht gehalten und dabei das Märchen „Die Sternenfrau“ erzählt. Der katholische Religionspädagoge Hubertus Halbfas nutzt dieses Märchen, um mit Kindern der ersten Klasse darüber zu reden, was wir mit den Augen sehen und was wir mit dem Herzen sehen. Passend zu vielen Bibelsprüchen, die sich genau mit diesem Thema auseinander setzen. Ich fand es angemessen, dieses Märchen zu erzählen. Schließlich befand sich unsere Gruppe gerade in der Phase unserer Ausbildung, in der wir in der Schule unterrichteten.

Mich hat die Aussage meines Studienleiters für Monate, vielleicht sogar Jahre verunsichert und geärgert. Ich wollte mich nicht entscheiden. Ich konnte beides sein. Aber vielleicht wollte der 20 Jahre ältere Kollege nicht, dass ich in seiner Kirche beides war.

In den kommenden Jahren habe ich bei Geburtstagsbesuchen, Seniorennachmittagen, Gemeindefesten und in Gottesdiensten biblische Geschichten und auch Märchen erzählt. Ich war sogar fünf Jahre lang dafür zuständig, Mitarbeitende im Kindergottesdienst und in den Kindergärten im Erzählen zu unterrichten. Mein tiefes Verständnis für das mündliche Erzählen, das ich durch eine mehrjährige Ausbildung in meiner Elternzeit und das Lesen und Lernen hunderter Märchen erworben hatte, war mir dabei sehr hilfreich.

Märchenabende am Feuer

Ich liebe es auch, Märchen zu erzählen und Themenabende für Kindergartenkinder oder Erwachsene zu machen. Dann tauchen wir nicht tiefer in die Geschichten ein, indem wir malen oder eine Traumreise machen. Es geht nur um das Hören.

Ich suche zum Beispiel Märchen zu Sternen heraus und erzähle drei oder vier verschiedene Märchen aus unterschiedlichen Kulturkreisen. Zwischendurch singen wir ein Lied oder hören Musik. Beliebt sind diese Veranstaltung in der Adventszeit und finden oft am Kaminfeuer statt. Manchmal kommen wir dann doch ins Gespräch über etwas, das eine Geschichte ausgelöst oder ans Licht gebracht hat. Aber die Geschichten dürfen auch einfach nur gehört und genossen werden.

Seit ein paar Jahren haben wir auch endlich einen Ofen in unserem Wohnzimmer und eine Feuerschale im Garten. Seitdem träume ich davon, regelmäßig einen offenen Garten oder ein offenes Wohnzimmer zu haben und Freundinnen und Bekannte zu Märchenabenden einzuladen. Aber irgendwas ist ja immer 😉

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